WIRTSCHAFT und WETTBEWERB
Muss das Kartellrecht schneller werden?

Muss das Kartellrecht schneller werden?

Prof. Dr. Rupprecht Podszun

Prof. Dr. Rupprecht Podszun
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Brüssel, an einem Herbsttag. Drei Begegnungen, drei Inhouse-Juristen, drei Mal ein Unbehagen. Ihre Unternehmen könnten unterschiedlicher nicht sein, aber was sie sagen, klingt merkwürdig gleich. Der erste arbeitet für eines dieser Häuser, deren Namen bei Kartellrechtlern Prominenz genießen, weil einige berühmte Fälle so heißen. „Ja, ja“, sagte er, „die Fälle wickeln wir noch ab, aber momentan interessiert mich Regulierung mehr als Kartellrecht.“ Der zweite Syndikus hatte sich auf ein ungünstiges Settlement eingelassen. Wäre da nicht mehr drin gewesen? „Wir haben das in unserem Geschäftsmodell berücksichtigt, das ist für mich vorbei.“ Der dritte, Counsel bei einem Digital-Unternehmen, das sich neben Amazon & Co. behauptet, sagt: „Competition law is about regulating a corpse.“ Wenn die Kommission Google nach sieben Jahren Ermittlungen in die Schranken weise, sei das in der Digitalwirtschaft nurmehr ein pathologisches Sezieren des längst dahingesiechten Patienten Wettbewerb.

Was leistet das Kartellrecht, wenn die Wirtschaft komplett umgebaut wird? Drei Stimmen an einem Tag, die den Eindruck vermitteln: Kartellrecht hinkt hinterher. Das institutionelle Setting wird der Dynamik der Märkte nicht mehr gerecht.

Das ist erst einmal nicht überraschend. In Art. 101 und 102 AEUV wird eine ex-post-Kontrolle vorgenommen. Konzeptionell ist es begrüßenswert, dass Unternehmen entdeckerisch tätig werden können, bevor Behörden sich in Bewegung setzen. Für Wettbewerbsfans ist „laissez faire“ ja kein Schimpfwort. Aber schön ist es nicht zu hören, wenn Kartellrecht als Leichenbeschau wahrgenommen wird.

Der Anspruch ans Recht hat sich gewandelt. Recht wird immer häufiger nicht nur als repressiv oder kompensatorisch wirkendes Sanktionsinstrumentarium gesehen, sondern als präventiv steuerndes „tool“, das „guidance“ vermittelt. Dieser Anspruch besteht für das Kartellrecht in besonderem Maße, schließlich ist es doch das „Grundgesetz der Marktwirtschaft“. Ein Grundgesetz ist aber nicht nur Maßstab für vergangenes, sondern Fundament für künftiges Handeln. 2017 diskutiert die Community Fälle wie Intel, Google Shopping oder Coty – Zombies, deren sachverhaltlicher Kern vor Jahren relevanter war als heute. Hinzu kommt die intensive Retrospektion in Kartellschadensersatzfällen. Das sind alles wichtige Cases, die sorgfältig aufzuarbeiten sind. Aber sie unterfallen der Kategorie Vergangenheitsbewältigung und bieten für die Zukunft der Märkte wenig Anhaltspunkte.

Geht es denn anders? Im Schwestergebiet des unlauteren Wettbewerbs erlassen Gerichte in immer noch rekordverdächtiger Zeit Unterlassungsverfügungen, in deren Zentrum aktuelle geschäftliche Praktiken stehen. Die VO 1/2003 hält mit Art. 9 eine Befugnis für einstweilige Anordnungen bereit. In IMS Health hat die Kommission 2001 eine einstweilige Anordnung getroffen: Marktbeherrscher IMS wurde verpflichtet, dem Wettbewerber NDC vorerst eine Lizenz zur Nutzung seiner „1860-brick-structure“ zu geben. Das EuG stoppte diese Maßnahme. Seither hat die Kommission die Finger von einstweiligen Anordnungen gelassen. Das Bundeskartellamt hat in einem Fragebogen an Professoren in diesem Jahr die Frage aufgeworfen: „Was spricht für, was gegen den Einsatz einstweiliger Anordnungen, um negativen Entwicklungen kurzfristig zu begegnen?“ Bislang sprach offenbar viel dagegen, denn die Befugnis in § 32a GWB wurde noch in keinem Fall erfolgreich angewendet.

Einstweilige Anordnungen, die in besonderen Einzelfällen einmal helfen mögen, würden das Unbehagen nicht auflösen. Kommissarin Vestager sollte vielmehr Impulse für ein effizienteres Verfahren setzen. Es scheint, vorsichtig von außen betrachtet, dass manche Fälle in zu vielen Daten, zu viel Ökonomie, zu viel Bürokratie absaufen. Die erste Missbrauchs-Entscheidung der Kommission richtete sich 1971 gegen die Verwertungsgesellschaft Gema, gewiss nicht gerade ein unterkomplexer Fall. Aber die Wettbewerbsdirektion schloss die Sache in nicht einmal einem Jahr ab und traf eine noch heute zitierte Grundsatzentscheidung für die kollektive Rechtewahrnehmung. Ja, Kartellrecht muss schneller werden. Nicht durch einstweilige Maßnahmen, sondern durch eine konzentrierte, zupackende Verfahrensführung. Das setzt natürlich voraus, dass die Gerichte der Kommission keine übersteigerten Anforderungen auferlegen. Hilfreich waren die verfahrensrechtlichen Entscheidungen der letzten Monate in dieser Hinsicht nicht.

Aber selbst wenn die Kommission den Turbo zuschaltet (und dies war keine Anspielung auf jahrelang liegengelassene Kronzeugenanträge), wird das Unbehagen noch nicht verschwinden. Es rührt nicht nur aus einem Mangel an Tempo. Vielmehr sorgen sich viele um den Wettbewerb in der digitalen Wirtschaft. Ariel Ezrachi und Maurice Stucke, die mit dem Buch „Virtual Competition“ einen schwungvollen Aufschlag gemacht haben, sehen sich bereits in einem „Kampf um die Seele des Kartellrechts“. Sie wünschen sich mehr Intervention, insbesondere ein engagierteres Behaupten des Wettbewerbs gegen Gatekeeper und Monopolisten im Netz. Wer in der Freiburger Schule das wettbewerbliche Einmaleins gelernt hat, mag manchen auf die USA bezogenen Alarmismus gelassen hinnehmen. Doch auch in Europa doktern am Patienten Wettbewerb inzwischen viele herum. Manchmal scheint es, dass andere Generaldirektionen mehr Wettbewerbspolitik machen als die DG COMP. Und nicht unbedingt bessere. Kartellrecht ist für die anderen Generaldirektionen (und, was man so hört, auch für manche Berliner Sondierer) eines von vielen Werkzeugen in der „Toolbox“ der Regulierung. Das ist eine Degradierung, die nach Gegenwehr ruft.