WIRTSCHAFT und WETTBEWERB
Kartellopfer in der Gerechtigkeitslücke

Kartellopfer in der Gerechtigkeitslücke

Professor Dr. Christian Kersting, LL.M. (Yale)

Professor Dr. Christian Kersting, LL.M. (Yale)
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Der Referentenentwurf zur 9. GWB-Novelle liegt seit dem 1. Juli vor. Das Gesetzgebungsvorhaben sollte ursprünglich nur der Umsetzung der Kartellschadensersatzrichtlinie (2014/104/EU) dienen und hat sich erst dann zu einer veritablen GWB-Novelle entwickelt. Zusätzlich aufgenommen wurden etwa Regelungen zur digitalen Wirtschaft.

Der Entwurf orientiert sich in seinen Vorschriften zur Umsetzung der Kartellschadensersatzrichtlinie eng an der Richtlinie. Er enthält Regelungen zum materiellen Schadensersatzrecht und zu Informationsansprüchen (§§ 33a ff. GWB-E) sowie prozessuale Regelungen zur Erleichterung der Anspruchsdurchsetzung (§§ 89a ff. GWB-E). In einigen Bereichen geht der Entwurf aber auch über die Vorgaben der Richtlinie hinaus. Insbesondere wurde der Vorschlag aufgegriffen, die im europäischen Bußgeldrecht etablierte Konzernhaftung in das nationale Bußgeldrecht zu übernehmen.

An einer entsprechenden Umsetzung der Konzernhaftung auch im deutschen Kartellzivilrecht fehlt es freilich, was ein klares Manko der Novelle darstellt. Während das europäische Recht „das Unternehmen“ als Schuldner des Schadensersatzanspruchs ansieht (EuGH, Urt. v. 05.06.2014, Rs. C-557/12, ECLI:EU:C:2014:1317 = WuW/E EU-R 3030 = WuW 2014, 783, Rn. 37 – Kone; Art. 1 Abs. 1 Kartellschadensersatzrichtlinie) und damit eine gesamtschuldnerische Haftung aller Träger der wirtschaftlichen Einheit fordert, soll im deutschen Recht nach herkömmlicher Auffassung nur die unmittelbar handelnde Gesellschaft Schuldnerin des Schadensersatzanspruchs sein. Die Haftungsmasse für die Gläubiger wird damit entscheidend verkürzt. Auch wenn im Wege der richtlinien- und primärrechtskonformen Auslegung die Konzernhaftung im deutschen Kartellschadensersatzrecht etabliert werden kann, wäre im Interesse der Rechtssicherheit eine gesetzgeberische Klarstellung wünschenswert. Gegen entsprechende Bestrebungen wurden jedoch starke Einwände erhoben. Soweit diese rechtspolitischer Natur sind und eine Schwächung des gesellschaftsrechtlichen Trennungsprinzips und ein Ausgreifen der Konzernhaftung in andere Rechtsbereiche befürchtet wird, ist jedoch der deutsche Gesetzgeber der falsche Adressat. Dieser muss die europäischen Vorgaben umsetzen. Angesichts des klaren Bekenntnisses des EuGH und des Richtliniengesetzgebers zu einer Unternehmenshaftung kann das Argument, das europäische Recht verlange keine kartellzivilrechtliche Konzernhaftung, ebenfalls nicht überzeugen (dazu bereits Kersting, WuW 2014, 564, 565 f. sowie GesRZ 2015, 377, 383).

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass im Bußgeldrecht zumindest eine Haftung der Muttergesellschaft für die Tochter begründet werden soll, während für das Kartellschadensersatzrecht entgegen europarechtlichen Geboten auf eine Regelung der Konzernhaftung verzichtet wird. Hinter der bußgeldrechtlichen Regelung steht das Bestreben, die sog. „Wurstlücke“ zu schließen, d. h. die Möglichkeit zu beseitigen, durch Umstrukturierungen der Bußgeldhaftung vollständig zu entgehen. Insoweit wird die „Wurstlücke“ zu Recht als „Gerechtigkeitslücke“ empfunden. Auch wenn die Regelung des neuen § 81 Abs. 3a GWB-E nur die Haftung der Mutter für die Tochter begründet und nicht zu der vor dem Hintergrund des Effektivitätsgrundsatzes eigentlich europarechtlich gebotenen umfassenden Konzernhaftung führt, ist sie daher im Grundsatz zu begrüßen.

Bedauerlich ist jedoch, dass der Entwurf, der einen scharfen Blick für Gerechtigkeitslücken hat, die dem Fiskus schaden, es nicht sieht, wenn Kartellgeschädigten die Vereitelung ihres Schadensersatzanspruches droht. Fehlt es an einer kartellzivilrechtlichen Konzernhaftung, so haften Opfern von Kartellen häufig nur untergeordnete und damit regelmäßig weniger solvente Teile des Unternehmens, obwohl das europäische Recht das ganze Unternehmen als Schuldner des Schadensersatzanspruchs ansieht. Damit überlässt es der Gesetzgeber letztlich den Gerichten, Gerechtigkeit auch für die Opfer von Kartellen, zu denen nicht nur Großunternehmen, sondern gerade auch KMU und Verbraucher gehören, zu schaffen. Am Ende wird der BGH dafür sorgen müssen, dass den Opfern ihr europarechtlich fundierter Anspruch auf Schadensersatz gewährt wird. Er kann sich hierbei dem österreichischen Obersten Gerichtshof anschließen, der die europäische Konzernhaftung sowohl für das Bußgeldrecht als auch für das Schadensersatzrecht in das österreichische Recht übernommen hat (Oberster Gerichtshof als Kartellobergericht, Beschl. v. 08.10.2015, 16 Ok 2/15b (16 Ok 8/15k) = NZKart 2016, 92, Rn. 5.11 – Kartellstrafe für Spar; Beschl. v. 02.08.2012 – 4Ob46/12m = WuW/E KRInt 421 = WuW 2013, 313, Rn. 7.4 – Debitkarten). Einer Vorlage an den EuGH wird es kaum bedürfen: die Richtlinie stellt einen acte clair dar. Es bleibt zu hoffen, dass im Interesse der Rechtssicherheit im weiteren Gesetzgebungsverfahren noch nachgesteuert und die Konzernhaftung auch im nationalen Kartellzivilrecht gesetzlich verankert oder doch zumindest in der Begründung als auch für das nationale Recht maßgeblich angesprochen wird (dazu Kersting/Preuß, Umsetzung der Kartellschadensersatzrichtlinie (2014/104/EU) – Ein Gesetzgebungsvorschlag aus der Wissenschaft, 2015, Rn. 16 ff.). Der Gesetzgeber sollte sich zum Anwalt der Opfer von Kartellen, zu denen eben auch KMU und Verbraucher gehören, machen. Nur so wird die Gerechtigkeitslücke vollständig, d. h. sowohl im Bußgeldrecht als auch im Kartellschadensersatzrecht, geschlossen.