WIRTSCHAFT und WETTBEWERB
Dürfen im deutschen Bußgeldverfahren mitten im Spiel die Regeln geändert werden?

Dürfen im deutschen Bußgeldverfahren mitten im Spiel die Regeln geändert werden?

Dr. Thorsten Mäger

Dr. Thorsten Mäger
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In jüngster Zeit haben viele Unternehmen ihre Einsprüche gegen Bußgeldentscheidungen des Bundeskartellamts vor Beginn der Hauptverhandlung vor dem OLG Düsseldorf zurückgenommen. Teilweise sind Gerichtsverfahren sogar komplett geplatzt, weil sämtliche betroffenen Unternehmen diesen Weg gegangen sind. Soweit das Bußgeld nicht bereits freiwillig beglichen wurde, müssen Zinsen gezahlt werden. Rückblickend wäre eine einvernehmliche Verfahrensbeendigung (Settlement) mit dem Amt besser gewesen. Dann wäre nur ein Kurzbescheid ergangen, der Vorteile in Kartellschadensersatzverfahren bietet. Außerdem hätte das Amt einen Settlement-Bonus (10 %) gewährt. Warum verzichten Unternehmen kurzfristig auf die gerichtliche Prüfung der behördlichen Vorwürfe?

Auf europäischer Ebene ist das Phänomen nicht zu beobachten. Nur ganz selten werden Rechtsmittel gegen eine Bußgeldentscheidung der Kommission vor der gerichtlichen Klärung in Luxemburg zurückgenommen. Weist das deutsche Bußgeldverfahren etwa einen Systemfehler auf? Es unterscheidet sich ganz erheblich von EU-Verfahren. Das OLG Düsseldorf rollt den Fall von neuem auf, etwa durch Vernehmung von Zeugen, was zu langen Hauptverhandlungen führt (im Flüssiggasverfahren z. B. von mehr als 150 Tage). Demgegenüber wird in Luxemburg nur überprüft, ob die Bußgeldentscheidung der Kommission fehlerhaft ist. Eine Beweisaufnahme findet praktisch nicht statt. Die mündliche Verhandlung dauert deshalb regelmäßig auch nur einen halben Tag. Aus Unternehmenssicht ist das deutsche Modell vorzugswürdig. Hierin kann nicht der Grund für die Einspruchsrücknahmen liegen.

In der Tat ist nicht das System das Problem, sondern ein Systemwechsel. Die Bußgeldobergrenze, die das OLG Düsseldorf im Blick hat, liegt meist deutlich höher als die Obergrenze, die vom Bundeskartellamt herangezogen wird. Zwar gilt für beide, was im Gesetz steht. Dort steht aber nur, dass ein Bußgeld gegen ein Unternehmen 10 % des weltweiten Konzernumsatzes nicht überschreiten darf, § 81 Abs. 4 Satz 2 und 3 GWB. Hieraus ergibt sich ein Dilemma, seit der BGH in der Grauzementkartell-Entscheidung vom 26.02.2013 diese 10 %-Grenze als Obergrenze eingeordnet hat (und nicht mehr als Kappungsgrenze, wie es noch heute das europäische Recht im Hinblick auf die Parallelvorschrift tut), um verfassungsrechtliche Bedenken – Fehlen einer Bemessungsvorgabe für die zu kappende Buße – zu zerstreuen. Damit hat der BGH den Tatrichtern aufgegeben, die Buße in Bezug auf diese Obergrenze zu bemessen. Bei Großkonzernen stellt die Obergrenze jedoch nicht nur abstrakt eine astronomisch hohe Zahl dar. Sie steht auch in keinem inhaltlichen Zusammenhang zu der konkreten Tat. Um ein handhabbares Berechnungsschema mit sachgerechten Faktoren anwenden zu können, hat das Bundeskartellamt für sich selbst Bußgeldleitlinien erlassen. Diese berücksichtigen seit der Grauzementkartell-Entscheidung des BGH zwar auch die Unternehmensgröße. Den Ausgangspunkt bildet aber nach wie vor der tatbezogene Umsatz, d. h. der Umsatz, der mit den kartellbefangenen Produkten erzielt wurde. Bei Großunternehmen führt dies zu einer deutlichen Absenkung des gesetzlichen Bußgeldrahmens. In dem Augenblick, in dem ein Großunternehmen einen Einspruch gegen einen Bußgeldbescheid einlegt, „explodiert“ aber der Bußgeldrahmen. Denn die Gerichte wenden den „selbstgebastelten“ Bußgeldrahmen des Amtes nicht an. Wird z. B. gegen eine Tochtergesellschaft eine Geldbuße von 10 Mio. € verhängt, und erwirtschaftet der Gesamtkonzern einen weltweiten Umsatz von 10 Mrd. €, kann das Gericht die Geldbuße auf bis zu 1 Mrd. € erhöhen.

Gelingt es einem Unternehmen, vor Gericht den ursprünglichen Vorwurf des Bundeskartellamtes zu widerlegen, verbleibt aber ein „Restverstoß“ mit geringerem Gewicht (z. B. Informationsaustausch statt „echte“ Preisabsprache), kann also gleichwohl ein deutlich höheres Bußgeld herauskommen. In der Tat haben die Kartellsenate des OLG Düsseldorf in den letzten Jahren regelmäßig die vom Bundeskartellamt verhängten Bußgelder erhöht (Flüssiggas, Melitta, Süßwaren, Tapeten, Rossmann).

Dass in der Praxis die Verböserung die Regel geworden ist (die es übrigens auf europäischer Ebene bislang praktisch gar nicht gibt), wird jedenfalls Großunternehmen davon abhalten, zu Gericht zu gehen. Dies erklärt, warum viele Unternehmen in jüngerer Zeit ihre Einsprüche kurz vor Eröffnung der Hauptverhandlung vor dem OLG Düsseldorf zurückgenommen haben (nach Eröffnung der Hauptverhandlung muss die Generalstaatsanwaltschaft einer Rücknahme zustimmen). Man mag einwenden, dass diese Unternehmen offenbar die Sorge haben, dass vor Gericht irgendetwas von dem Vorwurf übrig bleibt, und es in diesem Fall ohnehin klüger ist, mit dem Amt zu setteln. Sofern ein Unternehmen dafür aber einen zu weitgehenden Vorwurf akzeptieren muss – mit allen Folgen z. B. für den Kartellschadensersatz – besteht Anlass zur Korrektur. Wenn mitten im Spiel die Regeln geändert werden, ist das eben nicht nur im Sport unbefriedigend. Die Lösung kann nicht sein, dass die Kartellbeamten das Bußgeld „freihändig“ mit Blick auf die 10 %-Obergrenze zu bestimmen haben. Umgekehrt wird das OLG Düsseldorf das Berechnungsschema der Bußgeldleitlinien nicht zugrunde legen können. Abhilfe schaffen kann deshalb wahrscheinlich nur der Gesetzgeber, indem er eine differenzierte Regelung – etwa in Anlehnung an die Kriterien der Bußgeldleitlinien – zur Bußgeldbemessung trifft, die dann von Behörde und Gericht gleichermaßen anzuwenden ist.