WIRTSCHAFT und WETTBEWERB
Offenlegung von Beweismitteln nach der 9. GWB-Novelle: Sonderregeln mit Modellcharakter?

Offenlegung von Beweismitteln nach der 9. GWB-Novelle: Sonderregeln mit Modellcharakter?

Prof. Dr. Nicola Preuß

Mit der Richtlinie 2014/104/EU war dem deutschen Gesetzgeber aufgegeben, zugunsten der Parteien eines Kartellschadensersatzprozesses besondere Regeln für den Zugang zu Beweismitteln zu schaffen. Dieser Umsetzungsauftrag stieß in einen sensiblen Bereich des deutschen Zivilprozessrechts vor, den Grenzbereich zwischen im Interesse der Wahrheitsfindung gebotener Mitwirkung des Prozessgegners und Sicherung vor missbräuchlicher Ausforschung. Aus prozessrechtlicher Perspektive betrachtet hat der Gesetzgeber einen ausgesprochen traditionellen Weg gewählt, um dem Umsetzungsauftrag gerecht zu werden. Eine Umsetzung im Wege prozessualer Mitwirkungspflichten hätte den Rahmen der inhaltlich beschränkten Mitwirkungspflichten nach der ZPO sprengen können. Die Insellösung im GWB mit der Regelung eines materiell-rechtlichen Informationsanspruchs lässt dagegen die ZPO bewusst unberührt. In der konkreten Ausgestaltung der Offenlegungsansprüche wurden zum Teil neue Lösungen gefunden, die bei Bewährung in der Praxis Schule machen könnten.

I. Ein näherer Blick zeigt: Mit den Offenlegungsansprüchen nach § 33g GWB hat der Gesetzgeber keine prozessualen, aber immerhin prozessbezogene Mitwirkungspflichten geschaffen. Der Geschädigte kann seinen Offenlegungsanspruch zwar auch losgelöst von einem Kartellschadensersatzprozess verfolgen. Ein Prozessbezug ergibt sich jedoch angesichts der Zielrichtung und der Voraussetzungen des Anspruchs. Der Offenlegungsanspruch, der zur Verteidigung gegen einen Kartellschadensersatzanspruch gewährt wird (§ 33g Abs. 2 GWB), steht sogar lediglich in einer prozessualen Verteidigungssituation zur Verfügung.

(1) Der Offenlegungsanspruch zielt jeweils auf die Herausgabe von „Beweismitteln“. Die Erforderlichkeit des Beweismittels „für die Erhebung des Schadensersatzanspruchs“ impliziert eine sonst drohende Beweisnot im Prozess. Auch der Auskunftsanspruch, für den die Voraussetzungen entsprechend gelten (§ 33g Abs. 10 GWB), verlangt, dass die Auskunft insofern „erforderlich“ ist. Darzulegen ist also die konkrete Bedeutung für die Beweisführung im Schadensersatzprozess.

(2) Prozessbezug zeigt sich auch bei der Formulierung der auf den Hauptanspruch gerichteten Voraussetzung. Die zur Schließung von Informationslücken verfolgten Informationsansprüche setzen generell einen gewissen Grad der Wahrscheinlichkeit der Existenz eines Hauptanspruchs voraus; das Merkmal leistet Schutz vor missbräuchlicher Ausforschung (Ahrens, Der Beweis im Zivilprozess, 2015, Kap. 29 Rdn. 59). Der neue § 33g Abs. 1 GWB arbeitet mit dem Merkmal der Glaubhaftmachung der Existenz eines Schadensersatzanspruchs, also mit einem genuin prozessrechtlichen Begriff. Der prozessrechtliche Begriff der „Glaubhaftmachung“ (§ 294 ZPO) bezieht sich allerdings auf Tatsachen und nicht auf Ansprüche. Wie „Glaubhaftmachung“ im Kontext der Voraussetzungen eines Informationsanspruchs systematisch verstanden werden muss, ist eine offene Frage. Von ihrer Beantwortung hängt ab, ob die Voraussetzungen eines Offenlegungsanspruchs schlüssig vorgetragen werden. Die Rechtsprechung ist gefordert, die Anforderungen an die „Glaubhaftmachung“ eines Anspruchs zu konkretisieren.

(3) Der spezifische Prozessbezug schlägt sich schließlich in den Wirkungen eines klageweise geltend gemachten Anspruchs aus § 33g Abs. 1 (Abs. 8) GBW nieder. Eine isolierte Klage auf Herausgabe eines Beweismittels oder auf Auskunft würde normalerweise die Verjährung des Schadensersatzanspruchs unbeeinflusst lassen. Gem. § 33h Abs. 6 Satz 1 Nr. 3 GWB wird die Verjährung des Kartellschadensersatzanspruchs dagegen gehemmt, wenn der Anspruchsberechtigte gegen den Rechtsverletzer Klage auf Auskunft oder Herausgabe von Beweismitteln nach § 33g GWB erhoben hat. Eine Erhebung der Schadensersatzklage zum Zweck der Verjährungshemmung wird damit entbehrlich. Die Offenlegungsklage nimmt diesen Platz ein.

II. Ein typisches Problem der Offenlegung, das die Richtlinie 2014/104/EU in Art. 5 Abs. 4 fokussiert und auf das bei der Umsetzung Augenmerk zu legen war, ist die Austarierung von Informationsinteressen einerseits und gegnerischen Geheimhaltungsinteressen andererseits. Ein wesentlicher Baustein im Offenlegungsregime des GWB ist die konzeptionelle Einbeziehung des gerichtlichen Freigabeverfahrens (§ 89b Abs. 6 GWB). Ob eine Freigabe gewährt werden kann, hängt nicht nur vom Ergebnis eines Abwägungsprozesses ab, sondern auch von der Möglichkeit tauglicher Schutzmaßnahmen, die das Gericht anordnen kann (§ 89b Abs. 7 GWB). Die Gerichte sind gefordert, künftig den verfahrensrechtlichen Rahmen hierfür zu entwickeln.

III. Das neue Offenlegungsregime ist in vielen Punkten auf die Besonderheiten des Kartellschadensersatzprozesses und auf die Vorgaben der Richtlinie 2014/104/EU ausgerichtet. Das gilt namentlich für die Sonderregelungen zur Prüfung mutmaßlicher Kronzeugenerklärungen oder Vergleichsausführungen sowie für die spezielle Regelung zur „Offenlegung aus der Behördenakte“. Die konkrete Ausgestaltung der Offenlegungsvorschriften ist nicht gerade übersichtlich geraten und wird in der praktischen Anwendung einige Fragen aufwerfen. Gleichwohl könnten die Kerngedanken einer prozessbezogenen Mitwirkungspflicht kombiniert mit dem Gestaltungsauftrag an die Gerichte, Geheimnisschutzverfahren nun vor dem Hintergrund von Kartellschadensersatzprozessen zu kreieren, nach erfolgreichem Praxistest Modellcharakter für weitere Anwendungsfelder haben. Der Ball liegt nun im Feld der Prozessvertreter und der Justiz.