WIRTSCHAFT und WETTBEWERB
Zur Wettbewerbsökonomie von Kartellrechtsverletzungen

Zur Wettbewerbsökonomie von Kartellrechtsverletzungen

Prof. Dr. Rainer Lademann, Hamburg

Gesamtwirtschaftliche Wohlfahrtsverluste durch Kartellrechtsverletzungen beruhen mikroökonomisch auf geschädigten Marktteilnehmern. Insofern ist es nur konsequent, wenn wettbewerbspolitisch seit der siebten Kartellrechtsnovelle verstärkt auch die private Kartellrechtsdurchsetzung etabliert wird. Die Durchsetzung von Schadenersatzforderungen setzt voraus, sowohl die Entstehung des Schadens nachzuweisen als auch die Höhe des Schadens zu ermitteln – Per-se-Regeln i. S. eines formbasierten Kartellrechts helfen hier nicht weiter.

Damit liefert gerade die private Kartellrechtsdurchsetzung auch ein indirektes Plädoyer für eine effektbasierte Anwendung des Kartellrechts. Denn es ist umgekehrt zu fragen, warum Gerichte oder Kartellbehörden vom konkreten Nachweis wettbewerbsschädlicher Effekte aus Kartellrechtsverletzungen freigestellt werden sollen, wenn Kartell- oder Missbrauchsschäden durch keine Per-se-Regel beweisbar sind?

Damit rückt die Wettbewerbsökonomie in den Mittelpunkt der privaten Kartellrechtsdurchsetzung und muss sich sogleich fragen lassen, welchen Beitrag sie zur Klärung dieser zentralen Fragen in Schadenersatzverfahren leisten kann. So kann Private Enforcement gerade nicht bei einer rein hermeneutischen Interpretation kartellierten oder missbräuchlichen Verhaltens stehen bleiben. Wenn sie erfolgreich sein will, muss ein gerichtsfester, belastbarer Nachweis der Auswirkungen von Kartellrechtsverletzungen erbracht werden. Dies wird nur gelingen, wenn die Wettbewerbsökonomie in der Lage ist, „wahrheitsfähige Aussagen“ zu produzieren: Das aus der modernen Erkenntnistheorie abgeleitete Falsifikationskonzept überprüft mittels umfangreicher Testbatterien logische und faktische Aussagen auf ihren Wahrheitsgehalt und minimiert damit vor allem den Fehler erster Art, einen Sachverhalt irrtümlich als schädlich zu identifizieren, obwohl er unkritisch ist.

Wettbewerbsökonomie beschränkt sich bei einem operationalen Anwendungsverständnis jedoch keinesfalls allein auf angewandte Statistik. Vielmehr basiert sie auf einer auf den konkreten Fall adaptierten Theory of Harm: „Erst eine Wettbewerbsökonomie, die aus einer Schadenstheorie“ Aussagen zu deduzieren erlaubt, die an der Fallrealität überprüfbar sind, kann belastbare Aussagen zum Schadeneintritt und zur Schadensberechnung liefern. Genau hierin besteht der Unterschied zu einer theorielosen statistischen Untersuchung eines Falls.

In der Kartellrechtspraxis tritt allerdings vielfach die Schwierigkeit auf, dass für die rechtsanwendenden Parteien viele Zusammenhänge und Falldaten nicht (mehr) zugänglich sind und insoweit der Falsifizierbarkeitsanspruch der modernen Wettbewerbsökonomie nicht aufrecht zu erhalten ist. Dieser Einwand widerlegt jedoch keinesfalls die Überlegenheit einer fallibilistischen Interpretation von Kartellrechtsverletzungen: Sollten weder der Schadenseintritt noch die Schadenshöhe mit ökonomisch belastbaren Tests nachweisbar sein, so verbieten sich intersubjektiv nicht überprüfbare Schätzungen, die lediglich den Charakter von Glaubensbekenntnissen hätten. Nach der Logik des Falsifikationsprinzips sind dann die Grenzen der privaten Kartellrechtsdurchsetzung erreicht. Dies ist nur vordergründig für die Kartellverfolgung unbefriedigend, denn wettbewerbsökonomisch geht es nicht um die Verfolgung von Kartellrechtsverletzungen, sondern um deren Aufklärung.