WIRTSCHAFT und WETTBEWERB
Der Anscheinsbeweis ist tot – lang lebe die tatsächliche Vermutung!

Der Anscheinsbeweis ist tot – lang lebe die tatsächliche Vermutung!

Dr. Tilman Makatsch

Dr. Tilman Makatsch
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Am Ende eines ereignisreichen Jahres hat der BGH im Zusammenhang mit dem sog. „Schienenkartell Privatmarkt“ ein Urteil (KZR 26/17) erlassen, das für reichlich Diskussionsstoff gesorgt hat: „Bei einem Quoten- und Kundenschutzkartell sind die Voraussetzungen für einen Anscheinsbeweis weder hinsichtlich des Eintritts des Schadens noch hinsichtlich Kartellbefangenheit einzelner Aufträge erfüllt“.

In den Gründen hat der BGH zunächst klargestellt, dass es eine tatsächliche Vermutung gibt, wonach Preis-, Quoten-, und Kundenschutzkartelle zu höheren Preisen führen. Denn solche Absprachen zielten regelmäßig darauf ab, den Preiswettbewerb außer Kraft zu setzen. Dieser Vermutung komme „eine starke indizielle Bedeutung“ zu. Sie gewinne an Gewicht, je länger und nachhaltiger ein Kartell praktiziert wurde.

Allerdings sei diese Vermutung nicht gleichzusetzen mit einem Anscheinsbeweis. Dafür fehle es an einem „typischen, gleichförmigen Hergang“. Ob Kartellabsprachen einen Preiseffekt haben, werde von vielen Faktoren beeinflusst. Mit tatkräftiger Unterstützung des BKartA hat der Senat erkannt, dass sich Kartelle insbesondere hinsichtlich der Kartelldisziplin unterscheiden. Aus diesem Grund fehle es auch in Bezug auf die Kartellbefangenheit von Aufträgen an der „für die Anwendung der Grundsätze des Anscheinsbeweises erforderlichen Typizität“.

Der BGH hat damit für Ansprüche, die vor dem 26.12.2016 entstanden sind, überraschend ein eigenes Beweisregime geschaffen, das von den neuen Regelungen des § 33a Abs. 2 Satz 1 GWB abweicht. Diese gesetzliche Schadensvermutung sollte eigentlich „die von der Rechtsprechung entwickelten Ansätze“ ersetzen (BT-Drs. 18/10207, S. 55). Der Senat setzt sich mit dieser Norm und deren Begründung durch den Gesetz- bzw. Richtliniengeber nicht mal ansatzweise auseinander.

Ganz nebenbei beendet der BGH zu Recht die Unsitte einiger Beklagter, Kartellopfer für die erlittenen Schäden selbst verantwortlich zu machen. Er stellt klar, dass selbst dann weder Mitverschulden noch Verjährung drohe, wenn einzelne Mitarbeiter des Geschädigten Kenntnis der Absprachen oder sich sogar daran beteiligt hätten. Kartellanten seien danach nicht schutzwürdig und könnten sich nach Treu und Glauben nicht auf ein Mitverschulden berufen.

BGH-Urteil hält der Überprüfung durch das OLG Düsseldorf nicht stand

Auch wenn bei richtiger Lesart die praktischen Auswirkungen des Urteils überschaubar scheinen, zeigten sich Praktiker zunächst ratlos, wie mit den Ausführungen des BGH umzugehen sei. Die Erlösung kam erwartungsgemäß vom OLG Düsseldorf. Der 1. Kartellsenat folgt den Überlegungen des BGH im Hinblick auf die tatsächliche Vermutung nicht. Vielmehr erließ er am 23.01.2019 drei Urteile zum Schienenkartell (VI-U (Kart) 17/17, 18/17 und 19/17), in denen er den bereits in seinem lesenswerten Urteil vom 22.08.2018 (VI-U (Kart) 1/17, WuW 2018, 541 = WUW1282024) eingeschlagenen Weg konsequent fortführt.

Danach spreche eine tatsächliche Vermutung für die Kartellbetroffenheit, wenn das streitbefangene Geschäft nach äußeren Umständen in sachlicher, räumlicher und zeitlicher Hinsicht von der kartellrechtswidrigen Verhaltenskoordinierung erfasst wird. Die Vermutung der Kartellbefangenheit würde „nur dann erschüttert sein, wenn eine Kartellierung des betreffenden Vorgangs als fernliegend anzusehen wäre oder gar schlechterdings ausgeschlossen erschiene.“ Für den Fortfall der tatsächlichen Vermutung genüge nicht, dass die Umsetzung des Kartells mangels Kartelldisziplin auf praktische Schwierigkeiten stößt.

Nach dem OLG gebe es ebenso eine tatsächliche Vermutung dafür, dass der Kartellverstoß zu einem Schaden geführt habe („soweit der BGH zu den Voraussetzungen einer tatsächlichen Vermutung für die Entstehung kartellbedingter Schäden ausführt, vermag der erkennende Senat dem schon im rechtlichen Ausgangspunkt nicht beizutreten“). Die Erwägungen des BGH stünden mit den von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Rechtsgrundsätzen nicht im Einklang.

Ausblick

Die durch den BGH ausgelöste Aufregung dürfte sich angesichts der Ausführungen des OLG Düsseldorf wieder etwas legen. Geschädigte müssen weiter umfassend alle relevanten Tatsachen vortragen, die sich in ihrer Sphäre befinden. Hierbei sind keine übertrieben strengen Anforderungen an den Sachvortrag und den Nachweis des Kartellschadens zu stellen. Anspruchsgegner sollten die starke Indizwirkung der tatsächlichen Vermutungen sowohl für einen Schadenseintritt als auch für eine Kartellbefangenheit nicht unterschätzen. Die Anforderungen an deren Widerlegung steigen, je länger, nachhaltiger und disziplinierter das Kartell praktiziert worden ist.

Sofern die Instanzgerichte der Linie der neuen Leiturteile aus Düsseldorf folgen, geht dies auch nach dem Willen des Richtliniengebers in die richtige Richtung. Sollten allerdings Fehlinterpretationen des BGH-Urteils zukünftig Geschädigten die wirkungsvolle Inanspruchnahme von Kartelltätern auf Schadensersatz praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren, stünde der deutsche Gesetzgeber in der Pflicht. Es wäre dann an ihm zu verhindern, dass der unionsrechtliche Effektivitätsgrundsatz verletzt wird und der deutsche Gerichtsstand im europäischen Vergleich ins Hintertreffen gerät.