WIRTSCHAFT und WETTBEWERB
Fusionskontrolle 2.0 – Gemeinsamer Leitfaden zum neuen Aufgreiftatbestand

Fusionskontrolle 2.0 – Gemeinsamer Leitfaden zum neuen Aufgreiftatbestand

Dr. Peter Niggemann, LL.M.

Dr. Peter Niggemann, LL.M.
hbfm_wuw_2018_07-08_0353_a_1275757_a001.png

Der Eintritt in das digitale Zeitalter stellt erhebliche Herausforderungen an das Kartellrecht. Die deutsche Fusionskontrolle zeichnet die damit einhergehende Entwicklung in der Transaktionspraxis nach. Ihre formelle Anwendbarkeit hing bislang von umsatzbezogenen Aufgreifschwellen ab. Erwerbsobjekte sind aber zunehmend Gesellschaften, die zwar (noch) keine oder kaum Umsätze erzielen, dafür aber ein erhebliches Innovations- und Marktpotenzial aufweisen. Der Gesetzgeber hat die empfundene Lücke im Rahmen der 9. GWB-Novelle geschlossen, indem er einen neuen Aufgreiftatbestand geschaffen hat. Danach sind Transaktionen anzumelden, bei denen die Zielgesellschaft und andere beteiligte Unternehmen die maßgeblichen Umsatzschwellen zwar nicht überschreiten, der „Wert der Gegenleistung“ für den Erwerb jedoch mehr als 400 Mio. € beträgt und das Zielunternehmen „in erheblichem Umfang im Inland tätig“ ist (§ 35 Abs. 1a GWB). Die theoretische Zielsetzung ist klar. Allerdings verursacht dieser subsidiäre Aufgreiftatbestand nicht unerhebliche praktische Schwierigkeiten. Zu ihrer Klärung hat das BKartA mit der österreichischen Kartellbehörde am 09.07.2018 einen gemeinsamen Leitfaden veröffentlicht. Die darin enthaltenen Klarstellungen haben für Unternehmen zwar den Vorteil formaler Rechtsklarheit. Allerdings bleiben einige Fragen unbeantwortet, zu deren Klärung im konkreten Fall regelmäßig eine vorsorgliche Anmeldung erforderlich werden dürfte. Das ist sowohl für Unternehmen als auch für das BKartA unbefriedigend, da eine vorsorgliche Anmeldung unproblematischer Transaktionen der effizienten Verwendung beschränkter Ressourcen entgegensteht.

Erhebliche Inlandstätigkeit: Alternative Indikatoren

Der neue Aufgreiftatbestand ist aufgrund seines überschießenden Anwendungsbereichs problematisch. Der Wortlaut erfasst auch Auslandszusammenschlüsse, die ein hohes Transaktionsvolumen mit geringfügigen Inlandsbezügen verbinden, ohne dem Normzweck zu unterfallen. Der Leitfaden bietet bei der Ausgrenzung solcher Fälle keinen eigenständigen Mehrwert. Er folgt der Regierungsbegründung, indem er nur solche Zusammenschlüsse für relevant erklärt, in denen Umsatzerlöse die Marktposition und das wettbewerbliche Potenzial der Zielgesellschaft nicht angemessen wiederspiegeln. Wann dies der Fall ist und in welchem Verhältnis die Erheblichkeit der Inlandstätigkeit zur kollisionsrechtlich ohnehin geforderten Spürbarkeit inländischer Auswirkungen der Transaktion steht, bleibt dagegen unklar. Der Leitfaden greift zu kurz, indem er Beispiel und Gegenbeispiel des Anbieters einer App mit einer inländischen Nutzerzahl in Millionenhöhe und eines überwiegend im Ausland tätigen Herstellers analoger Produkte in einer etablierten Branche aus der Gesetzesbegründung wiederholt. Im Leitfaden wurde – außerhalb der Forschung und Entwicklung im Pharmabereich – die Gelegenheit verpasst, einschlägige Kriterien und Beispiele herauszuarbeiten. Im Gegenteil wurde die bislang regelmäßig angenommene Maßzahl einer „Million Monthly Active User“ bei Apps zusätzlich relativiert.

Wert der Gegenleistung: Ermittlung und Darlegung

Weitere Unsicherheiten bestehen bei der Ermittlung und Darlegung des Werts der Gegenleistung, die im Grundsatz den Kaufpreis zzgl. etwaiger übernommener Verbindlichkeiten erfasst (§ 38 Abs. 4a GWB). Dieser Wert kann im Zeitablauf variieren. Der Leitfaden stellt auf den Vollzugszeitpunkt ab. Danach kann eine Anmeldepflicht zwischen Signing und Closing (mehrmals) entstehen und (wieder) entfallen. Wechselkursschwankungen können einen Erwerb in Fremdwährung faktisch unmittelbar vor Closing „torpedieren“, obwohl der Wert der Gegenleistung bei Signing ordnungsgemäß ermittelt und eine Anmeldepflicht zutreffend verneint worden ist. Selbst nach Vollzug eintretende Wertänderungen sollen nachträglich zu einer Anmeldepflicht führen können, wenn der Wert der Gegenleistung nach behördlicher Ansicht nicht dem Leitfaden entsprechend bestimmt ist. Das erscheint nicht sachgerecht. Der Leitfaden stellt überhöhte Anforderungen an die Darlegung und Erklärung alternativer Szenarien und sich daraus ergebender Werte sowie der Gründe, warum diese Alternativszenarien nicht erwartet werden und unwahrscheinlicher als das erwartete Szenario sind. Dagegen hält er keine praktikable Lösung bereit, wie mit nachvollziehbaren Unsicherheiten verfahren werden soll. Es wird wiederholt auf die Möglichkeit einer vorsorglichen Anmeldung hingewiesen, die auf keiner Seite zu einer sinnvollen Ressourcenverteilung führt. Die Möglichkeit „informeller Gespräche“ ist jedenfalls formal als Ausnahme konzipiert, die nur solche Fragen betrifft, die im Leitfaden nicht angesprochen sind.

Fazit

Der Leitfaden führt zu keiner wesentlichen Konkretisierung des zu weit geratenen Aufgreiftatbestands durch das BKartA, stellt aber zugleich überhöhte Anforderungen an seine Prüfung und die Dokumentation der maßgeblichen (Alternativ-)Erwägungen. Vor dem Hintergrund des häufig prognostischen Charakters komplexer Wertermittlungen und der Möglichkeit schwebender Unwirksamkeit von Vollzugsgeschäften erscheint der verfolgte Ansatz unverhältnismäßig restriktiv und ineffektiv im Hinblick auf begrenzte Ressourcen auf beiden Seiten. Die hier skizzierten Problemfelder bedürfen in der Praxis und der nach § 43a GWB erforderlichen Evaluierung zwingend einer vertiefenden Betrachtung.