WIRTSCHAFT und WETTBEWERB
Im Fokus: Vertikale Online-Preisbeschränkungen

Im Fokus: Vertikale Online-Preisbeschränkungen

Dr. Hanno Wollmann

Dr. Hanno Wollmann
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Am 24.07.2018 hat die Europäische Kommission (EK) Geldbußen gegen vier Elektronikhersteller i. H. von mehr als 111 Mio. € verhängt (vgl. Pressemitteilung IP/18/4601). Den Herstellern wurde vorgeworfen, bei Online-Einzelhändlern interveniert zu haben, die ihre Produkte (wie Notebooks, Lautsprecher oder Küchengeräte) unter dem empfohlenen Wiederverkaufspreis anboten. Dabei berücksichtigte die EK, dass die Händler vielfach Preisalgorithmen einsetzen, durch die ihre Einzelhandelspreise automatisch an die Preise der Wettbewerber angepasst werden. Eine vertikale Preisbeschränkung bei einem Händler löse deswegen eine Art „Dominoeffekt“ aus. Aus Sicht der EK sind diese Entscheidungen, die im Settlement-Verfahren ergingen, konsequent. Aus Sicht der Unternehmer, aber auch der Verbraucher, hinterlassen sie ein zwiespältiges Gefühl.

Konsequenzen aus der E-Commerce Sector Inquiry

Ein Schwerpunkt der EK unter Präsident Juncker ist die Digital Single Market Strategy, die im Mai 2015 auf den Weg gebracht wurde. Ziel der EK ist es, die wesentlichen Hemmnisse für die Vervollständigung eines digitalen Binnenmarktes zu beseitigen, sodass Wirtschaft und Verbraucher in vollem Umfang vom Potential des Internets profitieren können. Als eine ihrer ersten Maßnahmen hat die EK eine E-Commerce Sector Inquiry veranlasst, deren Abschlussbericht im Mai 2017 vorgelegt wurde.

Im Zuge dieser Erhebungen hat die EK festgestellt, dass vertikale Beschränkungen des Online-Vertriebs bei Verbrauchsgütern häufig sind und erhebliche Auswirkungen auf die Marktgegebenheiten haben. An erster Stelle stehen dabei Preisbeschränkungen (einschließlich Preisempfehlungen), die bei Bekleidung, Sportartikeln und Elektronikprodukten am häufigsten anzutreffen waren. In diesen Produktbereichen hat die EK Verfahren eingeleitet, die in Bezug auf Elektroartikel mit den Entscheidungen vom 24.07.2018 abgeschlossen wurden; bei Bekleidung und Sportartikeln sind sie noch anhängig.

Notwendigkeit einer differenzierten Betrachtung

Die Entscheidungen gegen die Elektronikhersteller werden vielfach so interpretiert, dass vertikale Preisbeschränkungen (RPM) ein neuer Vollzugsschwerpunkt der EK werden könnten. Die Brüsseler Behörde würde damit eine Entwicklung nachvollziehen, die in den Mitgliedstaaten schon seit längerem zu beobachten ist. So entfielen von den insgesamt 61 Bußgeldentscheidungen, die das österreichische Kartellgericht im Zeitraum 2013–2017 auf Antrag der Bundeswettbewerbsbehörde erlassen hat, allein 43 Urteile auf vertikale Sachverhalte. Aus Unternehmenssicht entsteht mitunter der Eindruck, dass man es hier mit einer Strategie des geringsten Widerstands zu tun hat. Ermittlungen zu vertikalen Praktiken sind für die Wettbewerbsbehörden relativ einfach. Hier kommen die Behörden recht leicht zu „herzeigbaren“ Bußgeldentscheidungen. Der tatsächlichen wirtschaftlichen Bedeutung solcher Praktiken wird ein RPM-Vollzugsschwerpunkt aber kaum gerecht. Auch im digitalen Umfeld gibt es grundlegende Unterschiede zwischen vertikalen und horizontalen Absprachen. Weil Hersteller und Händler Leistungen erbringen, die zueinander komplementär – und nicht austauschbar – sind, haben die Vertragspartner ein natürliches Interesse daran, dass ihre Absprachen die Effizienz der Warenverteilung steigern und damit auch im Verbraucherinteresse liegen. Darin liegt ein markanter Unterschied zu Absprachen zwischen Wettbewerbern, was eine differenzierte Betrachtung erforderlich macht. Im Hinblick auf diese Gegebenheiten hat etwa die niederländische Wettbewerbsbehörde in einer Prioritätenmitteilung erläutert, warum sie nur unter bestimmten Umständen davon ausgeht, dass von vertikalen Absprachen (einschließlich RPM) spürbare Nachteile für die Verbraucherwohlfahrt ausgehen. Ein Einschreiten sei nur dann angezeigt, wenn der interbrand-Wettbewerb gering ist, wenn die fraglichen Absprachen am Markt weit verbreitet sind, oder wenn die Initiative für die Absprache vom Händler und nicht vom Hersteller ausgeht.

Auch die EK ist sich der Tatsache bewusst, dass die Behandlung vertikaler Absprachen eine sorgfältige Interessenabwägung erfordert. Ein Ergebnis der E-Commerce Sector Inquiry war, dass eine strikte Handhabung des Kartellverbots den Unternehmen im Vertriebsbereich nicht genug Spielraum lässt, um legitime Interessen (wie z. B. die Erhaltung der Qualität im Vertrieb oder des Images einer Marke) zu schützen. Im Abschlussbericht zur Sector Inquiry hat die EK deswegen betont, dass es nicht zu beanstanden sei, wenn Hersteller einem reinen Online-Händler höhere Preise verrechnen als einem stationären Händler. Zudem hält es die EK für möglich, dass Doppelpreissysteme bei Hybridhändlern für eine Einzelfreistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV in Betracht kommen, z. B. wenn sie unerlässlich sind, um ein Trittbrettfahren zu verhindern.

Mit ihren Entscheidungen gegen die Elektronikhersteller hat die EK Schlagzeilen gemacht, die die Strenge des Kartellrechts betonen. Die Freiräume für eine effiziente Gestaltung von Vertriebssystemen blühen demgegenüber, was Fragen der Preisgestaltung betrifft, im Verborgenen. Es gibt kaum einen Bereich in der aktuellen Vollzugspraxis der Wettbewerbsbehörden, in dem die Gefahr eines zu strikten Eingreifens größer ist. Aus Unternehmenssicht wäre wünschenswert, dass die Behörden in einem so diffizilen Umfeld nicht nur Geldbußen verhängen, sondern auch Orientierung durch Negativatteste schaffen. Die Strafen gegen die Elektronikhersteller waren der erste von der EK behandelte RPM-Fall seit mehr als 15 Jahren. Vielleicht findet sich zeitnah ein anderer Fall, in dem die EK erstmals seit Inkrafttreten von Art. 10 VO 1/2003 Gebrauch machen und eine Entscheidung über die Nichtanwendbarkeit des Kartellverbots treffen könnte, z. B. auf ein Doppelpreissystem. Wirtschaft und Verbraucher wüssten es zu danken.